„Vorher müßt ihr uns erschießen.“

vorher-musst-ihr-uns-erschiessenGöran Gnaudschun:
„Vorher müßt ihr uns erschießen“.
Hausbesetzer in Potsdam

„Vorher müsst ihr uns erschießen“ zeichnet am Beispiel Potsdams ein Bild der Hausbesetzerszene der 90er Jahre. Dieses Buch ist Familienroman, Tagebuch und Sprachrohr. Galten die Zeiten von Besetzungen und Häuserkampf im Westteil Deutschlands als erledigt, erlebte diese Form selbstbestimmten Handelns im Osten nach der Wende eine Renaissance. Die leerstehenden, verfallenen Innenstädte boten Raum für neue Ideen: „Wir hatten die absolute Freiheit“, so das Credo. In den sehr persönlich geprägten Bildern aus besetzten Häusern knüpfen Göran Gnaudschuns Fotografien ein Netzwerk beziehungsreicher und kontrastierender Blickweisen. Ein Lebensgefühl zwischen Politik und Punk, Widerstand und „Hoch die Tassen“, Härte und Melancholie. Die Interviews von Kay Meseberg zeigen Einstellungen und Erinnerungen der einstigen und jetzigen Besetzer.

„Inzwischen muß man länger suchen. Zwischen frisch verputzten Häusern und Sitex-Stahl verbergen sich die Spuren, dessen, wofür Potsdam einst auch stand, ein „Mekka“ alternativer Jugend- und Hausbesetzerkultur. Viel übrig geblieben ist davon nicht mehr und man bemüht sich in dieser Stadt, wie so oft, schnell zu vergessen. Die Fotos von Göran Gnaudschun verhindern das. Sie helfen, die eigenen Bilder im Kopf wiederzubeleben, sich an die Orte zu erinnern, die schon so lang verwehrt und verwahrlost sind.“
events. Das Potsdamer Stadtmagazin 1/2002.

Göran Gnaudschun über seine fotographische Arbeit:

Dreieinhalb Jahre fotografierte ich in besetzten Häusern in Potsdam. Es gibt hier eine recht starke Besetzerszene, die sich seit 1989 als eine Art Gegenkultur entwickelt hat, mit eigenen Normen und Wertvorstellungen, eigenen Veranstaltungsorten und Kneipen.
Der Grund, in besetzte Häuser zu ziehen, ist oft der Wunsch, dem „bürgerlichen“ Leben zu entfliehen und sich ein eigenes, unabhängiges Leben zu schaffen, in einer Gemeinschaft zu leben und anarchistische sowie autonom-demokratische Gesellschaftsmodelle im kleinen Rahmen zu testen.
In der Zeit zwischen dem Herbst 1989 und 1990 herrschte in der ehemaligen DDR ein rechtsfreier Raum. Es wurden die ersten Häuser besetzt. Alles schien möglich und alles war offen. Jedoch zeigte sich bald, dass sich die Gesellschaft nicht in der Weise bewegen ließ, wie es viele Aktive der Wendebewegung gehofft hatten. Die Menschen, die davon der Hausbesetzerbewegung angehörten, radikalisierten sich einerseits, traten auf der anderen Seite aber auch den Rückzug in eben diese selbstgeschaffenen Freiräume an. Es wird in den Häusern seitdem versucht, je nach Mentalität und Anspruch die eigenen Lebensvorstellungen umzusetzen.
Da allen klar ist, dass es nicht immer diese Freiräume und Nischen geben wird, die die besetzten Häuser bieten, und dass spätestens in den nächsten Jahren auch die letzten Häuser noch geräumt werden, hat sich eine „jetzt-erst-recht“ -Mentalität durchgesetzt. Es ist die Gewissheit des Scheiterns, verbunden mit dem Gefühl, es trotzdem tun zu müssen. Utopie als Mittel, um sich die Kraft zu bewahren, die eigene Haltung zur Welt zu verteidigen.
Ich fotografiere, um das, was unwiederbringlich verloren geht – mir wichtige Menschen, Dinge und Erlebnisse, wenigstens visuell festzuhalten, um sie in Bildern und dann bei deren Zusammenstellung zu verdichten – zu einer ganz bestimmten Aussage über diese ganz bestimmte Zeit.
Diese Arbeit ist zum Teil autobiographisch, ein Nachspüren meiner eigenen Vergangenheit, als dieses Leben für mich so selbstverständlich war, daß ich es nicht für fotografierenswert hielt. – Doch um zu beobachten, braucht man wahrscheinlich ein Stück Distanz, es ist sonst alles zu nah, wird unscharf oder nur privat.
Durch diese Beschäftigung mit der Vergangenheit an Menschen der Gegenwart entsteht für mich gleichzeitig ein Stück Biografie eines Teils einer Generation, eines Lebensgefühls, das den Protest gegen bestehende Herrschafts- und Besitzverhältnisse in eigene Lebens- und Verhaltensvorstellungen umwandelt und mischt mit den Ansprüchen an ein ganz normales, aber eigenes Leben.
Zum Titel: „Vorher müßt ihr uns erschießen“ entstand als Transparent auf einer Demonstration im Sommer 1997. Der Innenminister des Landes Brandenburg gab damals bekannt, dass die Polizisten nur noch bewaffnet in Situationen gehen, die zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Hausbesetzern und Polizei führen können.
Ich will bestimmte Situationen nicht zeigen, die als Klischees von den Medien schon über Gebühr publiziert worden sind. Deshalb setze ich den Bildern diesen Titel entgegen, der über dem privaten Raum die politische Ebene aufspannt, sich aber dann durch das Pathos selbst in Frage stellt.
Diese Arbeit ist eine Erinnerung an eine Jugend und an ein freies, selbstgewähltes Leben, sie ist auch politisch – aber keine Reportage. Mir geht es um die künstlerische Darstellung einer Lebensform, ohne den voyeuristischen, journalistischen oder ethnologischen Blick. Die Bilder sollen weitere Assoziationen und Aussagen zu allgemeineren Themen wie Jugend, Leben und Gesellschaft zulassen.
Göran Gnaudschun

Das Buch ist online im Shop erhältlich.

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